Leben auf dem Schloss Solitude

André Baier ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet Konstruktion von Maschinensystemen. Von Oktober bis Dezember hatte er die besondere Gelegenheit, am Kooperationsstipendium an der international renommierten Künstlerresidenz Akademie Schloss Solitude teilzunehmen. 

Der Aufenthalt in der Akademie Schloss Solitude ist kein monolithischer Block. Die Erfahrungen, die ich hier in den letzten zehn Wochen gesammelt habe, sind keineswegs homogen. Auch die kommenden zwei Wochen werden nicht helfen, den Aufenthalt zu einem runden Etwas abzuschließen. Aber es ist schön, sich einmal hinzusetzen, inne zu halten und zu überlegen, was diesen Aufenthalt hier auszeichnet..

Zu jedem Zeitpunkt sind mit mir immer etwa 30 andere Fellows auf einem Schloss oberhalb von Stuttgart. Sie sind meist aktive Künstler_innen oder erweitern ihre jeweilige Kunst in der Theorie. Es sind alles Menschen, die vor ein paar Jahren ihr Studium beendet haben und nun in der Kunstwelt, Arbeitswelt und Lebenswelt ihren eigenen Weg gehen. Dies ist unser gemeinsamer Nenner. Niemand ist nur in einer Disziplin unterwegs ist, sondern jede_r vereint mehrere Disziplinen ganz natürlich auf sich. Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Künsten und Wissenschaften verschwinden dadurch wahrlich nicht. Insgesamt zeigen die Fellows aber durch ihr Schaffen, dass die Grenzen zwischen den Disziplinen für sie nur zur Orientierung dienen und sie stattdessen etwas  eigenem, etwas ganz Neuem Raum geben möchten. Hierfür braucht es Zeit und die kann sich hier jeder nehmen und sie nutzen wie er oder sie möchte - wer hier ist, muss nichts abliefern, nichts da lassen und ist niemand anderem Rechenschaft schuldig.

Ich bin Anfang Oktober auf das Schloß gezogen. Die ersten drei, vier Wochen habe ich kaum etwas wirklich produktives getan und gerade nur so das Nötigste, das immer wieder mal aus Berlin herüber schwappte. Stattdessen saß ich in der Sonne, habe Kaffee getrunken und Zeitung gelesen. Mein Lieblingsplatz war in diesen Wochen der Tempel. Das ist ein großer Holzkubus mit einem umlaufenden Podest auf Hüfthöhe und einem Baum in seiner Mitte. Die Linde war zuerst da und dann kam ein Fellow vor ein, zwei Jahren und hat diesen japanischen Tempel um sie herum gebaut - weil er meinte dass er gut dahin passt, er die Bauteile gerade zur Hand hatte und sie aus Amerika einschiffen konnte. Die Akademie Schloss Solitude ist also auch ein Ort an dem Menschen einfach Sachen nicht nur mal ausprobieren, sondern diese in die Tat umsetzen und hierbei von den anderen Fellows und Mitarbeitenden der Akademie voll unterstützt werden.

Wie mir ging es vielen, dass sie erstmal hier ankommen und nichts machen, außer mit anderen Fellows zu sprechen, im Wald spazieren zu gehen oder sich einfach nur auf ein Bier zu treffen. Dies ist eine lang benötigte Ruhe von dem Sturm der da draußen ständig in unseren Leben tobt. Seitdem ich aber hier voll und ganz angekommen bin, erkenne ich mein Leben kaum noch wieder. Ich wache morgens sehr früh von alleine auf und setze mich direkt in die kleine Bibliothek unterm Dach und arbeite an manchen offenen Baustellen, die ich lange bearbeiten wollte, aber die als Herzensprojekte kaum Zeit im Alltag finden. Mittags gibt es kurz etwas zu Essen und dann wieder Bibliothek. Abends setze ich mich in mein Studio und arbeite dort noch ein paar Stunden, um den Tag dann im Gespräch mit ein paar anderen Fellows abzuschließen. Das war's. So läuft es schon seit Wochen. Zu den verschiedenen Tageszeiten arbeite ich immer an einem anderen Projekt und alle machen sie so unglaubliche Fortschritte oder wurden bereits abgeschlossen. Das ist völlig verrückt. Und noch schöner ist, dass auch Projekte dabei sind, die hier mit anderen Fellows begonnen wurden, die noch weit nach Berlin reichen werden und mein Arbeiten an der TU Berlin mitbestimmen werden.

Ganz nebenbei habe ich mir noch die Zeit genommen an einem Ikebana-Kurs teilzunehmen. Der VHS-Kurs, die Ikebana-Meisterin und die anderen Teilnehmenden sind für mich fast das Highlight des ganzen Aufenthalts hier. Dort wurde ganz praktisch die Frage behandelt, die mich auch sonst in meinem (Arbeits-)Leben am meisten umtreibt: Wie lässt sich gut lehren und lernen? Fast möchte ich fordern, dass es Ikebana-Kurse mit so einer Meisterin und solchen Mitschüler_innen an jeder Bildungseinrichtung geben möge. In diesem Kurs wurde jedoch nicht nur das Lehren/Lernen aufgegriffen, sondern auch ganz praktisch das Verhältnis des Menschen zur Natur sowie der Menschen untereinander. Hier habe ich auch erste Antworten auf eine Frage gesammelt, die mich bereits seit den ersten Tagen hier auf Schloss Solitude begleitet: Was sind die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Kunst und BIldung? Was können beide voneinander lernen? Diese Frage treibt mich nun schon seit zehn Wochen um und ich werde sie auch nicht in den nächsten zwei Wochen beantworten können, aber ich will an ihr dran bleiben.

- André Baier