Hybrid Thoughts zu »Zeit« in der Wissenschaft

© Nele Rußwinkel

Unsere Reihe der »Hybrid Thoughts« befasst sich jeweils mit einem Thema, das aus wissenschaftlicher und künstlerischer Perspektive beleuchtet, diskutiert und weitergedacht wird. So stärken wir den Blick jenseits unserer Expertise, zeigen, wie nah und fern Wissenschaft und Kunst/Gestaltung sein können, oder entfachen neue Ideen, Netzwerke, Schnittmengen in der interdisziplinären Arbeit.
Nachdem letzte Woche die Performance Künstlerin Irene Anglada zu Wort kam, präsentieren wir heute den Beitrag zum Thema »Zeit« in der Wissenschaft. Prof. Dr.-Ing. Nele Rußwinkel hat für uns ihre Forschung, Gedanken und Antworten auf die Frage: » Wie beeinflusst Zeit Ihre Arbeit und Forschung als Wissenschaftlerin?« zusammengefasst.


Zeit strukturiert unseren Tag und unsere Arbeit. Man kann sich daran orientieren und das schrittweise Erreichen seiner Ziele planen und überprüfen. Mithilfe von Zeitvereinbarungen lässt sich gemeinsame Arbeit mit Kollegen und Mitarbeitern koordinieren. Insofern kann Zeit als Orientierung dienen und stellt einen wichtigen Rahmen für meine Arbeit dar.

Doch Zeitvorgaben können auch unnötigen Druck ausüben, hemmend wirken und einen von interessanten, aber nicht geplanten Aufgaben, abhalten. Manche Arbeitsschritte brauchen länger als geplant, es kommt häufig etwas Unvorhergesehenes dazwischen und die geplanten Ziele werden nicht erreicht.

Ich zumindest komme häufig an einem Punkt an dem »plötzlich keine Zeit mehr da ist«. Was bedeutet das? Objektiv gesehen ist immer Zeit vorhanden. Unser subjektives Zeitempfinden unterscheidet sich aber von der objektiven Zeit, die mit der Uhr messbar ist.  Es ist häufig bereits mehr Zeit vergangen als gedacht, bzw. haben wir schon den weiteren Verlauf des Tages konkret verplant. Wir überprüfen daher regelmäßig wie weit die Zeit bereits vorangeschritten ist und ob wir noch im »Zeitplan« sind, welche Schritte noch vor uns liegen. Je zeitkritischer die Aufgabe ist, desto mehr ist man von der eigentlichen Aufgabe abgelenkt, man empfindet »Zeitdruck« und nimmt sich nicht mehr die Zeit für tiefe kognitive Verarbeitungsschritte, die Arbeitsqualität nimmt ab und es kommt gehäuft zu Fehlern.

In der Zeitforschung sind inzwischen viele Faktoren identifiziert, die unser subjektives Zeitempfinden beeinflussen. Es existieren sogar Modellansätze die Vorhersagen treffen können, wie sich eine bestimmte Aufgabe auf unser Zeitempfinden auswirkt. Viel interessanter ist aber für mich, wie sich unsere teilweise unbewussten zeitlichen Erwartungen konkret auf unser Verhalten auswirken. Sei es, dass diese Erwartungen auf Erfahrungen basieren oder wir unter Zeitdruck stehen und es Erwartungen gibt was als nächstes passieren muss. Dies sind Faktoren die unser Verhalten und Arbeitsqualität stark beeinflussen und nicht so einfach messbar sind wie Reaktionszeiten. Um besser zu verstehen wie diese Erwartungen aufgebaut werden und sich dann im Verhalten zeigen, entwickeln wir an unserem Fachgebiet ausführbare Modellansätze und überprüfen die Vorhersagen mit Experimentaldaten.

Auch die Zeitprobleme im Alltag  würden sich leichter lösen lassen wenn wir die überzogenen Erwartungen erkennen und akzeptieren könnten, dass objektiv weniger möglich ist als wir subjektiv erwarten. Es geht also um einen Abgleich von Anforderungen von innen und außen sowie innerer und äußerer Zeitvorgaben. Ein schwieriges Unterfangen – ich werde weiter daran arbeiten…

– Prof. Dr.-Ing. Nele Russwinkel

Prof. Dr.-Ing. Nele Rußwinkel ist Leiterin des Fachgebiets Kognitive Modellierung in dynamischen Mensch-Maschine-Systemen am Institut für Psychologie und Arbeitswissenschaft der TU Berlin.