Durch den eisernen Vorhang geschaut. Ostberliner Architekten im Westen.

»DURCH DEN EISERNEN VORHANG GESCHAUT. OSTBERLINER ARCHITEKTEN IM WESTEN« ist ein Beitrag von Prof. Dr. Kerstin Wittmann-Englert im Rahmen der vergangenen Hybrid Talks vom 14.12.2017 zum Thema »Blick & Perspektive«.

Architektur ist gebaute Gesellschaft. Sie hat als solche eine aktive, die Gesellschaft konstituierende Wirkung. Dies ist ein zentraler Gedanke der Architektursoziologin Heike Delitz, der mich in meiner Argumentation leitet. Architektur als Ausdruck der Gesellschaft und ihr Beitrag für deren Prägung stehen in Wechselwirkung zueinander. Den Einfluss, den sie auszuüben vermag, wussten auch die beiden konkurrierenden Systeme im geteilten Deutschland der 50er Jahre für sich zu nutzen. Hier angesprochen werden zwei der drei prominentesten Berliner Siedlungsareale jener Zeit: der erste Bauabschnitt der Karl-Marx-Allee aus der ersten Hälfte 2 der 1950er Jahre, im ehemaligen sowjetischen Sektor der Stadt gelegen und 1949-1961 Stalinallee genannt (Abb. 1); in seiner Verlängerung entstand ab 1959 der zweite Bauabschnitt der Karl-Marx-Allee (Abb. 2).

Im Wissen um die gut dokumentierten sowjetischen Einflüsse auf die Ost-Berliner Entwicklung (Stalinallee) wird hier eine Brücke in das westliche Ausland geschlagen. Angesprochen ist die Vorbildrolle Frankreichs, vornehmlich Le Havres (Abb. 3), für die industrielle Bauweise im Ostteil Berlins. Die Grundlage meiner Betrachtung bildet eine gut dokumentierte Kooperation zwischen französischen und ostdeutschen Architekten, die Mitte der 50er Jahre begonnen hat – mit der Gründung eines Komitees für deutsch-französische Zusammenarbeit der Architekten, Ingenieure und Techniker im März 1955. Unter anderem wurden Studienreisen veranstaltet, von denen eine die deutschen Kollegen im Mai 1956 für vierzehn Tage nach Frankreich führte. Darüber wurde auch in der Ostberliner Presse ausführlich berichtete. Zu den Teilnehmern gehörten neben Kurt Liebknecht (1951-1961 Präsident der Deutschen Bauakademie) und Hanns Hopp (1952-1966 Präsident des ostdeutschen Bundes Deutscher Architekten) u.a. Helmut Bräuer, Hans Gericke, Kurt Leucht und Reinhold Lingner. Besichtigt wurden neben Paris u.a. die Städte Rouen, Le Havre, Chartres, Marseille sowie die Provence. Den inhaltlichen Schwerpunkt dieser Studienreise bildete der französische Wiederaufbau, wobei den Reiseberichten von Kurt Liebknecht und Hanns Hopp zufolge das Interesse vor allem auf städtebaulichen, architektonischen und bautechnischen Fragen lag.

In Paris und vor allem Le Havre, welches zum Zeitpunkt der Reise erst seit knapp 5 Monaten sozialistisch regiert wurde, fokussierten die ostdeutschen Architekten die damals teils noch im Bau befindlichen Werke Auguste Perrets, »des allverehrten Altmeisters neuer französischer Baukunst, ein Künstler des Betons hinsichtlich seiner Gestaltung und seiner Oberflächenbehandlung«.

Man würdigte gleichermaßen die »Entwicklung eines neuen französischen Baustils bei Verwendung moderner Baustoffe«. Das größte Interesse der deutschen Delegation galt – mit Blick auf das eigene Baugeschehen – dem industrialisierten Wohnungsbau: dem Typenbau aus vorgefertigten Teilen, den man vor Ort vor allem in Le Havre studierte.

Auch Parallelen zu Berlin wurden - im Hinblick auf die Stadtstruktur wie auch die bautechnische Ausführung - gezogen. So von Hanns Hopp (Präsident des BDA): »Die große Hauptstraße [Avenue Foch – Anm. d. Verf.] mit zwei Hochhäusern als Tor zum Hafen erinnert tatsächlich an Berlin, wenn auch in Le Havre die Bebauung der Straße lockerer und abwechslungsreicher in der Höhenentwicklung ist. Alle Bauten sind als Skelettbauten mit Ausfachung ausgeführt. Oft bleibt das Skelett in der Fassade sichtbar.« Den konkreten Orientierungspunkt des Vergleichs bildete die Stalinallee, doch auch der nur wenige Jahre danach geplante zweite Bauabschnitt der Karl-Marx-Allee scheint aus der Retrospektive bereits auf. In einer gemeinsamen, schriftlich protokollierten Diskussion vom 10. Oktober 1956 forderten die französischen Kollegen die Vielgestaltigkeit der Baumassen auch bei den Typenwohnungsbauten, die deutschen Kollegen, hier konkret Hanns Hopp, indes nur für die Gesellschaftsbauten. Diese Haltung zeigt sich auch in der Karl-Marx-Allee.

Mit Blick auf die eingangs zitierte Aussage von Heike Delitz ist hier auch Hermann Henselmann zu hören, der zwar nicht an der Studienreise selbst, aber an der Sitzung des Deutsch-Französischen Komitees am 10. Oktober 1956 teilgenommen hatte. Auch für ihn war Architektur kein Ausdruck der Gesellschaft, also kein passives Element, sondern hatte aktiv an der Gesellschaftsbildung teil:

  1. Wir sind der Meinung, dass die Architektur eine sehr starke bewusstseinsentwickelnde Kraft hat. Mit welchen Mitteln, kann man das Denken und Fühlen der Menschen beeinflussen?
  2. Nach unserer Meinung spielt die Architektur im Bild der Heimat eine bedeutende Rolle. Dies ist eine komplizierte Frage, es geht nicht um eine historische Wiederherstellung, sondern um neue Qualitäten, und zwar, die dem Volk vertraut sind.
  3. Mit den neuen technischen Errungenschaften, eine veränderte Architektur möglich zu machen.

Für diese Ziele stehen nicht nur die zwei hier angesprochenen Siedlungsareale, sondern auch das Konkurrenzprojekt in West-Berlin – das 1956/57 errichtete Hansaviertel. Während die Architektur der Stalinallee und jene des Hansaviertels deutlich mit den jeweiligen Systemen verbunden waren, also konfrontativ zu verstehen sind, kann der zweite Bauabschnitt der Karl-Marx-Allee auch als Brückenschlag gelesen werden: und zwar in das westliche Ausland mit dem Ergebnis einer eigenständigen kritischen Aneignung und Übertragung bautechnologischer Prinzipien: der Normierung und Typung im industrialisierten Wohnungsbau sowie dem Umgang mit dem Material Stahlbeton. Und da wirkte Auguste Perret deutlich impulsgebend.

Kurzum: Auf beiden Seiten – im Ost- und Westteil Berlins - strebte man nach einen »Neuanfang« – zwar mit unterschiedlicher Ausrichtung, aber dennoch mit Anschluss an internationale Entwicklungen. Unser Blick darauf – und damit sei Bezug genommen auf das Leitthema dieser Hybrid Talks – war geprägt von der Konfrontation der Systeme. Inzwischen betrachten wir das nachkriegszeitliche Baugeschehen freier, sprich: ohne ideologische Voreingenommenheiten. Dieser Perspektivwechsel zeigt eine in jener Zeit schon bestehende Offenheit für aus dem anderen System kommende Einflüsse.

 

- Prof. Dr. Kerstin Wittmann-Englert

TUB, Institut für Kunstwissenschaft und Historische Urbanistik