Emphatische Lektüren

»Emphatische Lektüren« war ein von Dr. Thomas Hettche initiiertes Seminar, welches in Kollabortion von TU Berlin und UdK Berlin durchgeführt wurde. Es startete im Sommersemester 2018 und wurde im Sommersemester 2019 fortgesetzt. 

Fragestellung und Inhalte

Als man Walter Höllerer 1959 an die TU Berlin berief, schrieb er, er würde es begrüßen, an einer Technischen Universität lehren zu können. Er wußte, daß er in Anbetracht der Spannung, in der er die Literatur der Gegenwart sah, hier am richtigen Ort war, und verstand es bis zu seiner Emeritierung 1988 immer wieder, diese Spannung produktiv zu machen, die sich schon im Namen des von ihm gegründeten Instituts für Sprache im technischen Zeitalter ausdrückte. Sprache im technischen Zeitalter: Noch immer beschreibt diese Formel das gültige Paradigma jeder Betrachtung von Literatur unserer Gegenwart, und angesichts der rasanten technologischen Entwicklung mehr denn je.

Es gehört zum innovativen Kern aller Technologie, bestehende Kulturtechniken in Frage zu stellen, neue Praxen zu etablieren, andere zum Verschwinden zu bringen. Walter Höllerer war davon überzeugt, daß die Literatur bei den kulturellen Verlust- und Gewinnrechnungen dieser Prozesse weiterhin im Zentrum stehe. Er konnte nicht einmal ahnen, wie tiefgreifend die mediale Veränderung, die wir erleben, nicht nur unsere Apperzeption von Literatur verändern, sondern ihre Formate selbst angreifen und die literarische Öffentlichkeit, ja unser Verständnis von Fiktion überhaupt in Frage stellen würde.

Die téchne des Lesens ist eine Schnittstellenkunst, die zweierlei erst erzeugt: den Text und seinen Leser. Lektüre erschafft zuallererst den Raum, in dem Literatur möglich ist. In unserem technischen Zeitalter aber geht zunehmend verloren, was Lektüre einmal ausmachte: Die Überschreitung der Integrität des Lesers zielt. Auf die Möglichkeit einer solchen Überschreitung aber ist eine Literatur, die selbst mehr als die Abschilderung des Tatsächlichen sein will, fundamental angewiesen. Nur, wenn ein Leser bereit ist, sich lesend selbst in die Waagschale zu werfen, als ganze Person mit allen Vorurteilen, Sehnsüchten und Wünschen, realisiert sich ein literarischer Text, und wird die Lektüre mehr ergeben als ein Geschmacksurteil.

Nutzen und Zielgruppe

Emphatische Lektüren zielte auf die Ermöglichung einer solchen Lesepraxis. Im Zentrum stand dabei jeweils ein Roman, eine Novelle, eine Erzählung, auf die sich einerseits die Lektüreeindrücke und Fragen der Studenten richteten, die in zwei Seminarsitzungen erarbeitet wurden, andererseits poetische und poetologische Interventionen von Schriftstellern, die zu einem Workshop eingeladen wurden. Mit der Einladung erging die Bitte um Formulierung eigener poetischer Weiterungen und Reflexionen des befragten Werkes.

Die Veranstaltung selbst bestand dann aus gemeinsamer Lektüre von Studenten und Schriftstellern, bei der gemeinsam den Text erschlossen, weiter- und überschrieben, uns sich selbst dabei als Lesende in ihn eingeschrieben wurde. Ort des Workshops war der unter Denkmalschutz stehende Geodätenstand auf dem Dach des Hauptgebäudes der TU, ein Meßlabor, dessen Boden absolut schwingungsfrei gelagert ist, um die Übertragung von Erschütterungen zu verhindern und hochpräzise Messungen von Entfernungen, Winkeln, Laufzeiten und Strahlungen durchzuführen. In seinem Boden befinden sich Instrumentenstandpunkte, deren Koordinaten mit höchster Genauigkeit bestimmt wurden, die ansteigende Decke ermöglicht bestimmte astronomische Messungen. Zwar ist die Lektüre eines Textes nicht seine Vermessung, doch verfährt der Leser ganz wie ein Geodät, der im Wortsinn die sichtbare Welt teilt, indem er Perspektiven einnimmt, Horizonte fixiert, und den Text ausschreitet. Eine emphatische Lektüre begreift jedoch die Tatsache, daß im Fall der Literatur der Leser selbst das Meßinstrument ist und daher die Erstellung eines Katasters im Sinne einer gültigen Deutung eines literarischen Textes möglich und unmöglich zugleich ist, als Chance. Ihr zeigt sich, anders als dem Geodäten, das Verirren als Ziel.

Unterstützung und Begleitung durch die Hybrid Plattform.