Masterarbeit von Alina Czeczinski: Wer A sagt, muss auch B sagen?

Während ihres Masterstudiums Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation (GWK) an der Universität der Künste (UdK) Berlin hat Alina Czeczinski die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Wissenschaft am Beispiel der Corona-Pandemie analysiert. Im Rahmen ihrer Abschlussarbeit hat sie sich mit der Forschungsfrage auseinandergesetzt, inwiefern Gestaltung zu einer verbesserten Kommunikation über den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn während der Corona-Pandemie beitragen kann. Zu ihrer Beantwortung hat sie unter der Betreuung von Prof. Timothée Ingen-Housz und Prof. Klaus Gasteier eine pluralistische Herangehensweise gewählt. Entstanden ist das partizipative Ausstellungsexponat Candy Shop, das durch Interviews mit Expertinnen und Experten aus den Bereichen Gestaltung, Wissenschaft sowie Wissenschaftskommunikation verprobt wurde. Dabei hat sie insbesondere herausgefunden, dass Design ein notwendiger Bestandteil bei der Wissenschaftskommunikation ist. 

Das erfolgreichste deutsche YouTube-Video des Jahres 2020 ist mit mehr als sechs Millionen Aufrufen ein Beitrag der Wissenschaftsjournalistin und Fernsehmoderatorin Mai Thi Nguyen-Kim. Sie ordnet darin wissenschaftliche Empfehlungen und politische Entscheidungen im Zusammenhang mit dem Corona-Virus ein. Obwohl gemäß dem Wissenschaftsbarometer Corona Spezial der Stellenwert von wissenschaftlichen Erkenntnissen während der Pandemie auf einem Höchststand sei, warnt(e) die Weltgesundheitsorganisation vor einer zunehmenden Infodemie. Auf der einen Seite ist also ein großes Interesse der Bevölkerung für Wissenschaft, auf der anderen Seite eine zunehmende Desinformation festzustellen.

Als die Corona-Pandemie in Deutschland im März 2020 begonnen hat, galten Masken noch als weitgehend wirkungslos im Kampf gegen die Ausbreitung des Virus. Hingegen wurde bereits im April 2020 in ersten Städten eine Maskenpflicht eingeführt. Heute so, morgen anders – Die widersprüchlichen Signale aus der Politik, die dem Rat der Wissenschaft folgt, sorgen für Verunsicherung. Es scheint als ob der Grundsatz: Wer A sagt, muss auch B sagen nicht mehr gültig ist. Debatten, Kritik sowie Widersprüche sind in der Wissenschaft jedoch üblich. Die Notwendigkeit, fortlaufend neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu gewinnen und damit einhergehend auch immer wieder neue Entscheidungen der Politik sind, um es mit den Worten des Virologen Christian Drosten bei seiner Schillerrede auszurücken, mit einer „[...] Expedition ins Unbekannte zu vergleichen, die Irrungen und Rückschläge miteinschließt“ (2020).

Die Logik von wissenschaftlichem Erkenntnisgewinn ist für viele nur schwer nachzuvollziehen. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) betont in einem Statement die Notwendigkeit, Qualitätsstandards in der Forschung gerade während der Pandemie einzuhalten. In Anlehnung an die Leitlinien zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis der DFG und weitere Literatur hat Alina Czeczinski zwölf wissenschaftliche Qualitätskriterien identifiziert, nämlich Objektivität, Ehrlichkeit, Überprüfbarkeit, Reliabilität, Validität, Verständlichkeit, Relevanz, Logische Argumentation, Originalität, Nachvollziehbarkeit, Fairness und Verantwortung.

Um im Allgemeinen Wissenschaft sowie im Speziellen das beschriebene vermeintliche beziehungsweise von großen Teilen der Öffentlichkeit wahrgenommene Hin und Her der wissenschaftlichen Empfehlungen im Zusammenhang mit Corona haptisch erlebbar zu machen, hat sie Wissenschaft mit Wundern assoziiert. Das „Wunder von Madrid“ – Wie die Infektionen trotz „Highlife“ sinken, so oder so ähnlich lauteten die Schlagzeilen in der Medienberichterstattung. Nicht nur die Kommunikation über die Pandemie, auch die Wissenschaft grundsätzlich wird von den Interviewpartnerinnen und -partner als Wundertüte empfunden. So würde man oft von den Ergebnissen einer Studie überrascht werden. Überdies grenze die Geschwindigkeit mit der ein Impfstoff gegen das Corona-Virus entwickelt wurde an ein Wunder.

In Anlehnung an den Aufruf: Escaping the flatland des Informationswissenschaftler Edward Tufte hat Alina Czeczinski das Forschungsvorhaben in Form einer gestalterischen Arbeit umgesetzt. Da Wundertüten bekanntlich mit Bonbons gefüllt sind, wurde ein Süßwarenladen modelliert. Der graue Candy Shop symbolisiert die trostlose Zeit währen Corona. Laut Bundeskanzlerin Angela Merkel gilt Forschung als Lichtblick während der Pandemie, sodass im Modell lediglich die Wundertüten der Wissenschaft farbig sind.

Betrachtet man die Qualitätsstandards im Kontext der Corona-Pandemie sind vor allem Überprüfbarkeit, Verständlichkeit, Relevanz, Logische Argumentation, Nachvollziehbarkeit und Verantwortung relevant. Beispielhaft wird die Visualisierung des Begriffs Überprüfbarkeit in einer Wundertüte der Wissenschaft erläutert: Während der Pandemie werden Studien vermehrt ohne das übliche Peer-Review-Verfahren (also ein Begutachtungsverfahren, bei dem von der Studie unabhängige Expertinnen und Experten die Forschungsergebnisse vor der Veröffentlichung überprüfen) auf Preprint-Servern (also Websites, die Forschungsergebnisse der (Fach-)Öffentlichkeit frei zur Verfügung stellen) hochgeladen. Dabei ist es vorteilhaft, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Studien vor der offiziellen Veröffentlichung verwenden können. Es besteht jedoch die Gefahr, dass Personen außerhalb der Wissenschaft, zum Beispiel Journalistinnen und Journalisten, versuchen, Ergebnisse einzuordnen, ohne das Bewusstsein über deren Vorläufigkeit. Überträgt man diesen Umstand gestalterisch in eine Wundertüte, befinden sich im Inneren Logos von häufig genutzten Preprint-Servern, etwa arXiv.org oder bioRxiv, und eine Lupe, um auf die Notwendigkeit der Einhaltung von wissenschaftlichen Qualitätsstandards hinzuweisen. Zudem liegt ein Ausdruck von Drostens Studie über die Viruslast von Kindern im Zusammenhang mit dem Corona-Virus in der Wundertüte. Die Zeitung Bild hat auf Grundlage der Kritik von Statistikerinnen und Statistikern die methodische Vorgehensweise seiner Studie infrage gestellt. Allerdings haben die Medien sowohl die Vorläufigkeit der Studie als auch den Umstand, dass sachliche Diskussionen über Unstimmigkeiten in der Wissenschaft gängig sind, außer Acht gelassen. Die ausgedruckte Studie ist mit dem Stempel: Not reviewed versehen und verdeutlicht, dass Forschungsergebnisse derzeit zunehmend ohne offizielles Begutachtungsverfahren für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.

Abschließend ist festzustellen, dass die Wundertüten der Wissenschaft die Auseinandersetzung des Betrachters mit Wissenschaft fördern, indem sie die Qualitätskriterien in der Forschung (be)greifbar machen. In Rückbezug auf die Ausgangsfrage, ob der Grundsatz: Wer A sagt, muss auch B sagen auch während der Pandemie gilt, ist festzustellen, dass vor allem durch Corona die Fluidität der Wissenschaft und die Unabdingbarkeit, permanent neue Erkenntnisse zu gewinnen, deutlich werden. Nach Bertolt Brecht muss es also vielmehr heißen: Wer A sagt, der muss nicht B sagen. Er kann auch erkennen, dass A falsch war.

Im Rahmen des Rundgangs 2021 der UdK Berlin hat Alina Czeczinski ihre Abschlussarbeit der Öffentlichkeit vorgestellt. Während ihres Masterstudiums sind weitere Arbeiten entstanden, zum Beispiel Lost in Translation, Trash to go – Berlin to go oder Dingkapseln. Diese können auf der Website des Studiengangs GWK eingesehen werden. Gerne können sich interessierte Leserinnen und Leser bei etwaigen Rückfragen an Alina Czeczinski unter folgender E-Mail-Adresse wenden: a.czeczinski(at)udk-berlin.de.