Das Tonstudio als diskursiver Raum: Theorie, ästhetisches Konzept und praktische Umsetzung

„Glenn Gould. The Alchimist“. Regie: Francois-Louis Ribadeau, 1974. Screenshot.

„Glenn Gould. The Alchimist“. Regie: Francois-Louis Ribadeau, 1974. Screenshot.

Ziel und Inhalt des Projekts:

Was hören wir eigentlich, wenn wir eine CD oder eine Musikdatei abspielen? Musik, ist ja klar. Aber ist das die Musik, die der Künstler oder die Künstlerin auf der Bühne performt hat? „Na klar“, könnte man zunächst ebenfalls denken. Bei näherem Hinsehen erweist sich jedoch, dass auf dem Weg vom Klang und der Performance auf der Bühne ins Tonstudio und schließlich auf die CD eine Menge technische (und menschliche) Einflussnahme auf diese Parameter zu verzeichnen sind. Das fängt mit der Mikrofonaufstellung an und hört mit den Bearbeitungsmöglichkeiten im Mischpult nicht auf. Und dann ist zu fragen: Welchen Einfluss nehmen all die Menschen, die außer den Musikern noch an einer Tonaufnahme beteiligt sind? Wer genau ist das eigentlich? Und was tun die?

Mein seit März 2019 an der TU Berlin/Audiokommunikation laufendes DFG-Projekt »Das Tonstudio als diskursiver Raum« unternimmt es, diese Fragen für die Tonaufnahme im Bereich „Klassische Musik“ zu beantworten.

Auf den ersten Blick scheint es eine Binsenweisheit zu sein, dass auch in der sogenannten „Klassischen Musik“ eine befriedigende Tonproduktion ohne den durchdachten Einsatz von Aufnahmetechnik nicht möglich ist. Während jedoch bei Tonaufnahmen im Bereich der Pop- und Rockmusik nicht nur seit langem bekannt und akzeptiert ist, dass dort Aufnahmetechnik zur Erzeugung und Wiedergabe von Sound eingesetzt wird, sondern auch umfangreiche theoretische Überlegungen hierzu angestellt, ist dies im Bereich der klassischen Musik noch nicht geschehen. Oder anders formuliert: Es gibt im Bereich der klassischen Musik noch immer keine Theorie der Musikproduktion, in der – ähnlich wie in der Filmwissenschaft – Gestaltungsprinzipien herausgearbeitet sind sowie eine wissenschaftliche Basis zu deren technischen Umsetzung und diskursiven Verhandlung zwischen den beteiligten Akteuren gelegt wurde.

Zwar ist in der wissenschaftlichen Diskussion schon bekannt, dass es sich bei der Tonaufnahme prinzipiell um eine Gruppenleistung handelt, an der eben nicht nur die Musiker beteiligt sind, sondern auch Ingenieure, Tontechniker, Klavierstimmer und so weiter. Jedoch wurde bisher nicht gefragt, wie diese Gruppenleistung denn genau aussieht bzw. zustandekommt. Erst recht gibt es keine umfassende empirische Untersuchung, die alle Beteiligten einbezieht.

 

Vorgehensweise:

Indem ich Tonaufnahmesitzungen in verschiedenen Tonstudios als Hospitantin begleite und qualifizierte Interviews mit zahlreichen Beteiligten führe, möchte ich diesen Forschungsfragen auf die Spur kommen. Interessant für mich ist dabei einerseits die Kommunikation der Beteiligten über ihre Ziele, Wünsche und ästhetischen sowie künstlerischen Absichten. Dabei beobachte ich die Kommunikation der Ingenieure untereinander und die Kommunikation des Tonmeisters mit den Musikern. Andererseits versuche ich herauszufinden, welche technischen Folgerungen die Ingenieure aus diesen Kommunikationssituationen ziehen. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Aufstellung und Verwendung der Mikrofone. Es handelt sich dabei um ein tool, das nicht nur (positive und negative) Aufmerksamkeit aller Beteiligten auf sich zieht, sondern auch den Klang einer Stimme/eines Instruments wesentlich beeinflusst und daher das Denken der Musiker und Ingenieure über die Möglichkeiten und Grenzen von Tonaufnahme präformiert, formiert und reguliert.

 

Und warum ist das eigentlich interessant? Warum sollen wir uns so intensiv mit Tonaufnahme beschäftigen?

Weil das Tonstudio kein Raum ist, der außerhalb von Gesellschaft steht. Zum einen geht es hier um die Aushandlung von Wissen und Erfahrung sowie um Machtstrukturen wie in jeder anderen Kommunikation auch. Zum anderen hat Tonaufnahme am gesamtkulturellen Prozess teil, und das macht sie auch für übergeordnete Betrachtungen interessant: Hier wird nicht nur die ,Wahrheitʻ des Kunstwerks, sondern auch die Entstehung von Klang und die Authentizität des Künstlers verhandelt – oder eigentlich müsste man sogar sagen: Klang und Authentizität werden hierdurch hergestellt. Wir können hier also beobachten, wie doing technology vor sich geht, wie also das Verhältnis zwischen Mensch und Technik tatsächlich ausgehandelt wird.

– Dr. Karin Martensen