Roundup: Hybrid Talks XXXVI - Turbulenz

Die Villa Bell dient in Zeiten turbulenter Wetterentwicklungen immer wieder als perfekter Unterschlupf für wissbegierige Gäste und aufregende Redner, sodass sich auch am Donnerstag, dem 27.06. wieder einige Leute zum kollektiven Lauschen versammelten.

Den Startschuss gab die für das Hochschulübergreifende Zentrum Tanz arbeitende Kuratorin und Dramaturgin Prof. Dr. Sandra Noeth, die sich während ihres Talks »Das Mit-ein-Ander ist aufgebraucht« mit Körpern, Konflikten und Kollektiven befasste. Die Tatsache beleuchtend, dass wir uns konstant durch abgegrenzte Räume bewegen und parallel dazu die Motionen in eben solchen analysieren, schloss Noeth auf eine Metaebene von Grenzen. Worauf basieren Grenzen? Was braucht man um zugehörig zu wirken? Durch ihre empirische Beobachtung der Geschehnisse im erweiterten Nahen Osten, wusste sie das Publikum aus einem sehr spannenden Blickwinkel zu emotionalisieren und erklärte, inwiefern Körper aufgrund von Attributen wie Hautfarbe oder Stereotypen automatisch mit Kollektiven in Verbindung gebracht werden, sich aber immer wieder verwischen, auflösen und mischen. Gerade in Kriegsgebieten regiert eine unkontrollierbare »Turbulenz« zwischen Zivilisten, Involvierten und territorialen Machtansprüchen, welche mit enormer Vor- und Weitsicht angegangen werden sollte.
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In gewohnter Hybrid-Manier drang Prof. Dr. Jörn Sesterhenn anschließend in das Feld der numerischen Fluiddynamik vor. Anhand der von Lewis Carroll geschriebenen Nonsensballade »The Hunting of the Snark« wurde auf unterhaltsame Art und Weise die Analogie zwischen physikalischer Turbulenz, die mit Hilfe der Reynolds-Zahl bestimmt werden kann, und dem im Buch als mysteriöses Wesen bezeichneten und von abenteuerlustigen Seefahrern gejagten »Snark« gezogen. Sesterhenn kommt zu dem Fazit, dass sich hundert Jahre Turbulenzforschung gut mit diesen Zeilen der Ballade zusammenfassen lassen, da vieles immer noch ungeklärt ist:
»They hunted till darkness came on, but they found
Not a button, or feather, or mark,
By which they could tell that they stood on the ground
Where the Baker had met with the Snark.«
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Ähnlich mystisch stieg Prof. Timothée Ingen-Housz, seinerseits Professor für Dramaturgie und Gestaltung audiovisueller Kommunikation an der UdK Berlin, mit dem weltberühmten Gemälde der Sternennacht von Vincent van Gogh ein. Die hypothetisch andeutende Frage wie turbulent ein Kopf sein muss, um Turbulenzen zu sehen oder zu kreieren öffnet in diesem Kontext eine ganz neue, eine neuronale Dimension des an diesem Abend zu betrachtenden Phänomens. Van Gogh war zum Zeitpunkt dieser Kreation bereits in psychologischer Obhut und »besessen von Dämonen«, sodass diese Frage auch hinsichtlich anderer künstlerischer Objekte sehr interessant sein könnte. Übertragen auf die heutige Zeit fragt sich Ingen-Housz auf Basis ebenso interessanter wie schneller Assoziationsketten, wie man eine mediale, nicht greifbare Turbulenz durch neue Interfaces, Designs oder Gesetze erfassen und über Mobilgeräte kontrollieren könnte.
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Prof. Dr. Breitschwerdt katapultierte uns im Nu wieder in physikalisch-astronomische Sphären und erklärte, wie sich Sterne im interstellaren Raum bilden und wie unter Einfluss von Gravitation und der Ausdehnung unvorstellbar vieler Lichtjahre Turbulenz entsteht. Demnach ist alles Teil des interstellaren Materiekreislaufs, sodass die während einer Supernovae explodierenden Sterne für eine erneute Strukturbildung von Molekülwolken sorgen und somit eine unendlich andauernde Turbulenz erzeugen. Physikalisch gesprochen ist die Turbulenz die freie Energie für Verwirbelungen, die im Unterschied zum »Chaos« über mehr sogenannte Freiheitsgrade, also veränderliche Parameter eines Systems, verfügt.
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Der wahrscheinlich greifbarste Talk kam von Dr. Marlene Kretschmer und rundete die hochwertige Gästerunde ab. Die Postdoktorandin des Potsdam-Instituts für Klimaforschung erklärte inwiefern der Klimawandel auf Extremwetterveränderungen basiert und wie diese aus den komplexen dynamischen Systemen resultieren. Dadurch, dass sich die Polarregion schneller erwärmt und das Meereis schmilzt, vermindert sich der Temperaturgradient (der Kontrast zwischen tropischer und arktischer Luft), der Jetstream schwächt sich ab, der Wind wird welliger und es kommt zu mehr Extremwetter. Diese hier stark vereinfachte Form der Darstellung sollte auf keinen Fall den Fakt schmälern, dass wir als turbulentes Kollektiv an Menschen alles daransetzen sollten, in jegliche Forschung zu investieren und den Planeten soweit zu schützen, dass wir ihn nicht weiteren Extremsituationen aussetzen.
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Mit dieser impliziten Motivation ging es an die glücklicherweise noch gekühlten Getränke und es wurde sich über die spannenden Themen des Abends ausgetauscht.

- Aljoscha